Der Sport-Verein 06 von 1906 bis 1919

von Heinz Jamin
Quelle: Festschrift "100 Jahre Turn- und Sportgemeinschaft 1888 Nieder-Erlenbach"
Gründung und Organisation

Der Sport-Verein wurde arn 22. August 1906 in der Gastwirtschaft „Zur Reichskrone“ gegründet, und zwar von Jakob Fasold, Georg Jann, Heinrich Kötter, Karl Kötter I, Karl Kötter II, Fritz Kötter, Karl Kreutz, Heinrich Kreutz, Wilhelm Kreutz, Daniel Nagel, Philipp Reichardt und Karl Walz. Einige von ihnen waren bisher Mitglied des Turnvereins gewesen. Jedes Gründungsmitglied zahlte 1.- Mark in die Kasse, damit war der finanzielle Grundstock geschaffen. Zum 1. Vorsitzenden wurde Jakob Fasold gewählt, der 1909 von Karl Walz abgelöst wurde, welcher dieses Amt bis zur Fusionierung mit dem Turnverein im Jahre 1919 innehatte. Schriftführer waren Heinrich Kötter und ab 1907 Georg Kötter (Spitzname: Fusch). Vor allem dessen ausführlichen Protokollen, die teilweise den Charakter ausführlicher Sportberichte haben, verdanken wir unsere Kenntnis des Sport-Vereins, soweit es die Zeit bis 1919 betrifft. In der folgenden Sitzung wurden Statuten festgelegt die aber nicht erhalten sind. Wir wissen nur, daß für „unvorschriftmäßiges Betragen" eine Ordnungsstrafe von 10 Pfennigen gezahlt werden mußte.

Die Zahl der Mitglieder erhöhte sich langsam aber stetig; so konnten dem Verband, nämlich der Deutschen Sportbehörde für Athletik, für das Jahr 1914 34 aktive Mitglieder gemeldet werden. Der Mitgliedsbeitrag betrug im Jahre 1908 für Aktive 15 Pfennige pro Woche.

Die Vorstandssitzungen und Mitgliederversammlungen fanden reihum in den drei Vereinslokalen statt nämlich im "Frankfurter Hof“ (Heinrich Schneider) sowie in den Gastwirtschaften „Zur Reichskrone" (Frau Winkler Witwe) und „Zum Adler" (Karl Libbach, genannt Bier-Karl). Zu besonderen Veranstaltungen erfolgte die Einladung, indem der Vereinsdiener ein Einladungsschreiben herumtrug und sich die Kenntnisnahme durch Unterschrift bestätigen ließ. Im Jahr 1924 erfolgten Bekanntmachungen auch durch die Ortsschelle, was M 1,20 kostete.

Sportliche Aktivitäten

Der Sport-Verein trug jährlich seine Vereinsmeister-schaften aus, veranstaltete zum Saisonausklang einen internen Wettkampf, Vereinsmeeting genannt, organisierte Wettkämpfe, zu denen andere Vereine eingeladen wurden, und beteiligte sich im übrigen sehr rege an deren Veranstaltungen, was die Nieder-Erlenbacher Sportler bis nach Aschaffenburg, Darmstadt und Ludwigshafen führte.

Daß damals schon die Anreise ein kleines Problem war, zeigt das Protokoll vom Wettgehen in Bad Homburg am 12. April 1908: „Wer fährt die gemeldeten Geher an den Start und wer begleitet dieselben auf ihrer Tour? Was die erste Frage anlangt, so lag es klar auf der Hand, daß hier zuerst unser 1. Vereinswirt Heinrich Schneider in Betracht kommt Doch erhielten wir eine ablehnende Antwort, weil die hierfür bestimmte Chaise nicht ganz in Ordnung war, und wurde unser 1. Sportwart Fritz Kreutz gebeten, sich nach einer Chaise umzusehen, was ihm auch gelang, indem uns der hiesige Hofgutsbesitzer Bienmüller seine Chaise zum Preis von M 5,- zur Verfügung stellte. Was die 2. Frage bezüglich der Begleiter auf der Strecke anlangt, so meldete sich für den Geher Karl Kreutz unser 1. Vorsit­zender Jakob Fasold, für Fritz Kreutz unser Zeugwart Daniel Nagel, während unser Mitglied Georg Kötter zum hiesigen Radfahrverein Germania seine Zuflucht nehmen mußte, wo ihm das Mitglied Wilhelm Kinkel seine Dienste zur Verfügung stellte. Hiermit war also auch die zweite Frage erledigt, und wurden nur die Geher sowie Begleiter nochmals höfl. gebeten, am 12. April morgens 1/2 7 Uhr am 3. Vereinslokale sich zusammenzufinden."

Über den Wettkampf selber, der von Bad Homburg über Grävenwiesbach und wieder zurückführte, berichtet der Protokollant wieder recht ausführlich: „... Als wir das Umkleidezimmer betraten, bekamen wir eine komische Ansicht. Alles saß da, ganz entblößt und schmierte und salbte seine Knochen. Endlich war es 8.00 Uhr, und wurde das Zeichen für die Ablassung der ersten Geher gegeben... Alle drei (Nieder-Erlenbacher) Geher gingen sehr gut ab und erregten dadurch allgemeine Aufmerksamkeit. Die Strecke war sehr schwierig, und erforderte es schon eine besondere, leichte Gangart, um die Tour ohne Aufenthalt in einem derartigen Tempo zurückzulegen. Wenn man bedenkt, daß sich bei einer derartigen Veranstaltung nur wirklich gute Kräfte einfinden, welche schon ab und zu Siege errungen hatten und dennoch zwölf die Strecke überhaupt nicht zu Ende führten, so muß unsere Leistung, zumal wir uns das erste Mal bei einer derartigen Veranstaltung einfanden, als eine sehr gute bezeichnet werden. Denn unsere Mitglieder legten alle drei die Strecke, welche über sehr bergiges Terrain führt, glatt zurück. Allerdings war es nur unserem 2. Sportwart Karl Walz gegönnt, einen Preis zu erlangen." Er belegte nämlich den 9. Platz, während Fritz Kreutz und Georg Kötter weiter hinten landeten.

Noch im gleichen Monat nahm Karl Walz an dem 50 km-Wettgehen des Fußballclubs Pfalz von Ludwigshafen nach Speyer und zurück teil. Um die Auslagen bestreiten zu können, wurden ihm M 5,- bewilligt, und als Schrittmacher wurde Daniel Nagel vorgesehen, „da derselbe in Mannheini durch Verwandte in der Lage ist, kostenlos Nachtquartier zu erhalten, so daß dem Verein diese Unkosten erspart bleiben." Karl Walz belegte den 6. Platz.

Am 31. Mai des gleichen Jahres (1908) veranstaltete der Sport-Verein ein internes Wettgehen über die Strecke Nieder-Erlenbach, Nieder-Eschbach, Bonames, Harheim, Nieder-Erlenbach, an dem sich acht Vereinsmitglieder beteiligten. Der Sieger Karl Fasold benötigte für die 11 km 63 1/2 Minuten. Das Protokoll zu diesem Ereignis endet so: „Jedenfalls haben wir uns durch dieses Wettgehen am hiesigen Platze keine Blamage zugezogen, denn das Tempo war ein derart scharfes, wie es nur selten anzutreffen ist, so daß auch unsere schlimmsten Gegner gezwungen waren, dasselbe als eine Leistung zu bezeichnen. Nach dem Wettgehen fand noch eine gemütliche Zusammenkunft im 1. und 3. Vereinslokal statt, wobei es ziemlich heiter herging."

 

Für ein Wettgehen am 2. Mai 1909 in Bad Nauheim waren Karl Walz und ein 2. Sportler, der aber kein Vereinsmitglied war, gemeldet worden. Der Start war für 15.00 Uhr vorgesehen, deshalb wollten sich die Schrittmacher Daniel Nagel und Georg Kötter erst um 12.00 Uhr mit dem Fahrrad auf den Weg machen, während die beiden Wettkämpfer schon früher losgefahren waren. Wie es den beiden Schrittmachern erging, schildert Georg Kötter, der Protokollant, sehr anschaulich: „ ... und war die Abfahrt auf 12.00 Uhr festgesetzt, verspätete sich jedoch um eine halbe Stunde, da erst noch ein heftiger Regen niederprasselte. Dabei war es so kalt, daß wir uns mit Handschuhen versehen mußten, da die Lenkstange ohnehin wenig Wärme ausstrahlte. Unterwegs mußten wir mehrmals vor dem Unwetter flüchten.

Zwischen Köppern und Oberrosbach hagelte und schneite es so kräftig, daß binnen weniger Minuten das Feld besonders nach dem Gebirge und Hozhausen zu in eine vollständige Eisdecke gehüllt war. Als das Wetter immer ärger wurde und uns der Baum, unter den wir geflüchtet waren, nicht mehr genügend Schutz gewährte, ent-schlossen wir uns, nach Oberrosbach zu flüchten, wo wir in einer Wirtschaft haltmachten und volle drei Viertel Stunden warten mußten, bis wir unsere Weiterfahrt fortsetzen konnten.

Daß wir um 3.00 Uhr nicht am Start sein konnten, war uns bereits klar geworden, jedoch waren wir der bestimmten Annahme, daß das Wettgehen ebenfalls um 3.00 Uhr nicht seinen Anfang nehmen konnte. Doch da hatten wir uns ein wenig getäuscht, denn schon kurz vor Friedberg mußten wir die Wahrnehmung machen, daß es hier gar nicht geregnet hatte. Schneller wurden die Pedale in Bewegung gesetzt, doch vergebens, die Geher hatten bereits den Start verlassen, da es hier gar nicht geregnet hatte ..." Bleibt noch nachzutragen, daß Karl Walz einen hervorragenden 4. Platz belegte und der andere Teilnehmer „unter den ermunternden Zurufen seines Schrittmachers Daniel Nagel" siebter wurde.

Eine Aufnahme der Turnhalle aus dem Jahre 1912. Auf dem Turnplatz davor befinden sich Mitglieder des Turnvereins Nieder-Erlenbach in verschiedenen Turnstellungen.

Auch der Bericht über das Wettgehen anläßlich der olympischen Spiele, die der Fußballklub Viktoria Aschaffenburg am 4. Juli 1909 ausrichtete, verdient es, festgehalten zu werden.: „Als Schrittmacher kamen die Mitglieder Jakob Fasold, Emil Kreutz und Georg Kötter in Betracht, welche auch am 4. Juli früh die Reise nach Aschaffenburg antraten, während die eigentlichen Teilnehmer per Bahn vorausgeeilt waren. Die Fahrt der Schrittmacher ging glatt vonstatten, um so mehr, da es sich um drei gleichwertige Fahrer handelte, und so wurde die Strecke in 2 1/4 Stunden zurückgelegt, so daß wir frühzeitig genug am Start eintrafen. . . Was nun die eigentliche Konkurrenz anlangt, so begann das Wettgehen als erste Nummer des Programms Punkt 9.00 Uhr.

Am Start erschien eine ziemlich gute Konkurrenz, und so schien es ziemlich aussichtslos, daß unsere beiden Mitglieder Karl Walz und Wilhelm Libbach einen Preis erringen würden. Sofort nach dem Startschuß setzte sich Wilhelm Libbach an die Spitze. Doch zeigte sich hierin die Unerfahrenheit, denn während Karl Walz seinen alt-gewohnten ruhigen und besonnenen Schritt einsetzte, wollte Wilhelm Libbach das Gehen gleich für sich entscheiden, hatte aber nicht damit gerechnet, daß er es hier mit erstklassigen Kräften zu tun hatte, welche etwas mehr Training als er hinter sich hatten. So kam es auch, daß er bereits nach ca. 200 Metern dem Chausseegraben einen Besuch abstattete, wo er sich wegen heftigem Seitenstechen wie ein Wurm krümmte. Unter allerlei Gebärden wollte er das Seitenstechen so schnell als möglich überwinden, denn sein Ehrgeiz wollte es nicht zulassen, daß er hier im Chausseegraben sein Quartier aufschlagen müsse.

Aber es wollte und wollte nicht aufhören, längst war auf der schnurgeraden prachtvollen Straße keiner der Geher mehr in Sicht, als er den erleichterten Ruf ausstieß: „Soeben hört's auf!" Schleunigst machte er sich an die Verfolgung, ich traute meinen Augen nicht und konnte mich einem lauten Lachen nicht erwehren. Längere Zeit blieb ich rührungslos stehen, bis er ca. 600 Meter von mir entfernt war, dann hatte ich keine andere Wahl, als ihm nachzufahren.

Als ich in seine Nähe kam, glaubte ich einen Irrsinnigen vor mir zu haben. Das Taschentuch in dem Mund, die Zähne knirschend und murrend, trabte er dahin. Endlich erreichte er den letzten Mann, und mit den Worten „lieber Mann, Sie sind zu mastig" wurde er passiert. Gleich darauf kamen auch die anderen an die Reihe. Mit einer Unverfrorenheit, die ihresgleichen sucht, trabte er an ihnen vorbei, und derjenige, welcher es wagte, mit ihm zu springen, bekam sofort eine Tracht Prügel angeboten. So passierte er 12 Mann. Aber der 13. wollte und wollte sich nicht ergeben. Mit den Worten „das ist aber ein verfluchter Knochen" schritt er hinter demselben drein. Es war Rüthlein vom Sportclub 05 Darmstadt, welcher wohl den schönsten Schritt von der ganzen Konkurrenz an sich hatte. Kurz vor dem Ziel ließ ihn Rüthlein freiwillig passieren, und nun jagte er im reinen Höllentempo aus Freude hierüber davon, so daß es ihm gelang, den 10. Preis zu erringen. Unser Mitglied Karl Walz war bereits vor längerer Zeit eingetroffen und hatte den 6. Preis erobert. . ."

 

Vorder- und Rückseite einer Medaille, die Ernst Friedrich Kreutz III (SV 06) im 100-Meter-Lauf bei

einem Sportfest der Frankfurter Eintracht auf dem Rosegger-Sportplatz (Nähe Dornbusch) erhielt

Im Laufe der Zeit hatte der Sport-Verein so viel Erfahrung gewonnen, daß er erstmals 1910 und dann am 25. Juni 1911 selber sog. olympische Spiele ausrichten konnte, zu denen 26 Vereine 66 Teilnehmer bei 93 Meldungen angekündigt hatten. Besonders die letzten 8 Tage brachten für den Vorstand sehr viel Arbeit mit sich, „so daß auf längere Nachtruhe als längstens 4 Stunden niemals zu rechnen war." Das 30 km-Gehen war als nationaler Wettbewerb ausgeschrieben und mit 24 Meldungen die am besten besetzte Konkurrenz. Sieger wurde Schmidt aus Nürnberg, der mit 2 Stunden, 42 Minuten und 16 Sekunden einen neuen deutschen Rekord aufstellte. Die Zahl und die Klasse der Teilnehmer zeigt, daß sich der Sport-Verein mittlerweile in der Geher-Disziplin einen Namen gemacht hatte, der über die engere Umgebung hinausreichte. Zufrieden schreibt deshalb der Protokollant: „Auch konnten wir zu unserer Freude constatieren, daß unsere hiesige Einwohnerschaft mit der Länge der Zeit doch einsieht, daß uns die Zukunft gehört, denn die Sympathie, die uns bei den einzelnen Conkurrenzen entgegengebracht wurde, war doch gegenüber den früheren Jahren um das doppelte gestiegen."

Aber es wurden natürlich auch andere Sportarten betrieben. So war die allererste Anschaffung ein Faustball sowie Stangen und Fahnen für das Goal. Von der ersten Übungsstunde am 2. September 1906 heißt es: „Und wurden unter vorschriftsmäßiger Anleitung die ersten Spiele zur vollen Zufriedenheit ausgeführt."

Ringen und Stemmen gehörten auch zum Programm, aber im Laufe der Zeit gewann die Leichtathletik immer mehr an Bedeutung. So wurden bei den olympischen Spielen, die der Verein, wie bereits erwähnt, 1911 ausrichtete, außer dem Wettgehen auch noch folgende Wettkämpfe ausgetragen: 50 m-Lauf für Teilnehmer unter 18 Jahren, 100 m-, 400 m- und 1000 m-Lauf, 4 x 100 m-Staffel, Kugelstoßen, Weitsprung, Hochsprung und Dreikampf (100 m-Lauf, Kugelstoßen und Dreisprung). Wenn auch kein Nieder-Erlenbacher unter den Siegern war, so konnte der Verein doch für alle Disziplinen Teilnehmer stellen.

Einen weiteren Beweis für die sportliche Vielseitigkeit des Vereins lieferte der erstmals 1911 ausgetragene Zehnkampf (100 m- und 1000 m-Lauf, Diskuswerfen, Speerwerfen, Hochsprung, Weitsprung, Kugelstoßen, Dreisprung, Stabhochsprung und Kugelwerfen), den Karl Kreutz vor Georg Kotier, Fritz Schneider und Georg Kreutz gewann.

Auch im folgenden Jahr richtete der Verein wieder olympische Spiele aus, zu denen 22 Vereine mit 87 Teilnehmern 169 Meldungen abgaben, also 93 mehr als im Vorjahr. Vereinsmitglieder nahmen an neun auswärtigen Wettkämpfen teil, und außerdem wurden wieder vereinsintern der Zehnkampf und das übliche Schlußmeeting ausgetragen.

Im Januar 1914 faßte der Vorstand den Beschluß, „dem Beispiel des hiesigen Turnvereins und dem Drang unserer Jugendlichen folgend," eine Fußballmannschaft ins Leben zu rufen; allerdings unter großen Bedenken, weil man große finanzielle Ausgaben sowie einen Niedergang der Leichtathletik befürchtete. Da kein Sportplatz zur Verfügung stand, wurde auf der Wiese des Vereinswirts gespielt, und das sah am Anfang so aus: „Nur einzelne hatten eine kleine Ahnung vom Fußballspiel, während alle übrigen, man sollte es kaum für möglich halten, dutzendmal über den Ball traten und denselben im Übereifer gar nicht trafen. Es war mit einem Wort mehr Rugby als Fußballspiel, und ein erstklassiger Ligaspieler hätte sicher das Weite gesucht, wenn er dieses Gemurks mit ansehen hätte sollen. Das einzige, was bemerkenswert war, war die riesige Ausdauer, die sich fast durchweg zeigte und auf gute Ausbildung in den Laufübungen schließen ließ."

Der Ausbruch des 1. Weltkrieges beendete den beachtlichen Aufschwung, den der Verein insgesamt genommen hatte, denn der Sportbetrieb kam vollständig zum Erliegen. Vier Mitglieder kehrten nicht aus dem Krieg zurück: Gustav Apfel, Julius Herzberger, Karl Kötter und Georg Ziegert. Nach dem Krieg erfolgte dann die Vereinigung mit dem Turnverein.

Feste und Feiern

Doch noch einmal zurück zu den acht erfolgreichen Vorkriegsjahren, die der Verein erlebt hatte, denn neben dem Sportbetrieb wurde auch das gesellige Leben eifrig gepflegt. Getragen vom Schwung des Anfangs und sicher auch mit Blick auf die Konkurrenz wurden im Februar 1907 ein Maskenball, gleich darauf im April ein Familienabend veranstaltet, und im August wurde mit großem Aufwand das Stiftungsfest gefeiert. Beim Maskenball spielte die Holzhäuser Kurkapelle auf, der Eintritt kostete 30 Pfennige und das Tanzgeld betrug 50 Pfennige. Weiter berichtet der Protokollant:

„Was den eigentlichen Verlauf desselben anlangt, so ist zu bemerken, daß der diesjährige Maskenball alle bis jetzt hier abgehaltenen weit übertroffen hat, was der zahlreiche Besuch, unter welchem sich ca. 40 Masken befanden, beweisen dürfte ... Um 1/2 11 Uhr wurde die von den Gästen schon lange ersehnte Demaskierung unter großem Bravo vorgenommen. Nach derselben hielt unser 1. Sportwart Karl Kreutz eine Ansprache, welche von einzelnen Personen als politisch hingestellt wurde. Hieran schloß sich der Clownreigen auf Stelzen, was für den hiesigen Platz etwas Neues bildete und somit von voller Zufriedenheit begleitet war. Nach dem Clownreigen fand die Beerdigung des 1. Clowns statt, was ebenfalls große Heiterkeit erregte. Auch die Pyramiden nahmen sich sehr geschmackvoll aus. Inzwischen waren die Lose alle zum Verkauf gebracht, und konnte nunmehr die Verlosung der 36 Preise stattfinden. Nach der Verlosung begann der gemütliche Teil, was bis zum frühen Morgen dauerte."

Am 2. Osterfeiertag fand der Familienabend statt. Er bestand aus turnerischen Vorführungen, einer Tombola sowie Dar-bietungen des Gesangvereins Eintracht. Da eine Musikkapelle zu teuer gewesen wäre, verzichtete man darauf, denn „in unseren Mitgliedern Wilhelm Kreutz und Fritz Schneider, welche sich auf Klavier und Flöte einübten, hatten wir auch reichlich Ersatz."

Zum Stiftungsfest hatte man den Turnverein eingeladen, die Gesangvereine Eintracht und Heiterkeit, den Kriegerverein sowie den Radfahrverein Germania und außerdem noch acht auswärtige Vereine. Über den Verlauf berichtet der Protokollant:

„Inzwischen war es fast 3.00 Uhr geworden, und fand nunmehr die Aufstellung des Festzuges statt. An demselben beteiligten sich nur 2 hiesige Vereine, nämlich der Gesangverein Eintracht sowie der Radfahrverein Germania, was wir uns ganz besonders in unser Gedächtnis eingeprägt haben. Von auswärts war die Turngemeinschaft Dortelweil erschienen. Punkt drei Uhr setzte sich dann der Festzug unter den Klängen der Rodheimer Feuerwehrkapelle

sowie unter spöttischem und höhnischem Grinsen diverser hiesiger Einwohner in Bewegung, was uns jedoch wie gewohnt völlig kalt ließ, ja sogar noch zu einem lauten sportlichen Hipp, Hipp, Hurra bei dem Vorbeimarsch an unserem 2. Vereinslokal aufforderte. Aber trotzdem, daß uns ein Teil der hiesigen Einwohnerschaft nicht gewogen ist, war der Saal und Garten des Frankfurter Hofes bald dicht besetzt, denn unsere Leistungen von unserem zu Ostern stattgefundenen Familienfeste möchten wohl auch bei den uns nicht Gewogenen schnelle Verbreitung gefunden haben, und so trieb sie denn die Neugierde zu unserem Stiftungsfeste, um der Dinge abzuwarten, die da kommen würden. Wehe, wenn auch nur ein Fehler bei unseren Leistungen gewesen wäre. Aber es war nicht der Fall, ja, im Gegenteil, alle Übungen gingen glänzend vonstatten, und stets erfüllte ein lautes Bravo den Saal. Seinen Höhepunkt erreichte jedoch die Anerkennung unserer Leistungen, als am Abend im Garten die Marmorgruppen unter Schellackbeleuchtung stattfanden. Das war für manchen am hiesigen Platze etwas noch nie Gesehenes, und ohne zu fragen, konnte er sich wohl nicht enträtseln, was das bedeuten sollte. Nach den Marmorgruppen fand noch eine Freiübung im Saale statt, welche ganz besonders taktvoll ausfiel, was die laute Anerkennung während derselben von diversen Zuschauern wohl am besten beweisen dürfte.

Jedenfalls konnten die Anwesenden wohl sehr leicht konstatieren, daß wir unsere Turnstunden nicht zur Politik verwenden, wie dies am hiesigen Platze allgemein das Tagesgespräch war oder noch ist. Die Tanzbelustigung dauerte noch bis zum frühen Morgen."

Maskenbälle fanden in den folgenden Jahren regelmäßig statt, zumal sie Geld in die Kasse brachten, allerdings nicht in den Jahren 1910 und 1911. Vielleicht lag das an Unstimmigkeiten im Verein, denn die Mitgliederversammlung im Januar 1910 war so schlecht besucht wie noch nie, und außerdem waren zwei Mitglieder ausgeschlossen worden, weil sie auch dem Turnverein beigetreten waren. Möglicherweise lag es aber auch daran, daß die sportlichen Aktivitäten zunahmen und Zeit und Kraft beanspruchten, denn der Verein richtete, wie schon erwähnt, in den Jahren 1910 und 1911 olympische Spiele aus. Im Jahre 1912 fand dann wieder ein Maskenball statt, und das war so gekommen: Die 1911 ausgerichteten olympischen Spiele hatten mit einem Defizit von M 101,- geendet, so daß man den Radfahrverein Germania bat, dem Sport-Verein wegen schlechter Kassenverhältnisse die Ausrichtung des Maskenballs im Februar 1912 zu überlassen. Dies geschah, und so konnte man Ende Februar wieder einen Kassenstand von M 11,60 verzeichnen.

Sportplatzfrage

Ein Dauerproblem, das die Protokolle viele Jahre durchzieht, war die Tatsache, daß dem Verein kein Sportplatz zur Verfügung stand. Da er Anfang 1908 bei drei Zeitungen angefragt hatte und den Bescheid erhielt, daß die Gemeinde nicht verpflichtet sei, „einen Spielplatz gratis zu stellen," kann mann vermuten, daß der Verein in diesem Sinne schon vorher erfolglos an die Gemeinde herangetreten war. Da sich auch „keine geeignete Wiese fand, welche für einen geringen Preis gepachtet werden könnte," war man darauf angewiesen, daß wohlwollende Einwohner eine Wiese zur Verfügung stellten. Für die olympischen Spiele im Jahr 1910 stand „eine Wiese eines hiesigen Gutsbesitzers gratis zur Verfügung." Erst im Juni 1913 wurden durch den Gemeiderat die Wiesen 60/61/62 gegenüber der früheren Schützenhalle für den „hohen Preis vom M 85,-" zugestanden. Allerdings wurde l Jahr später durch den Verein dieser Platz wieder gekündigt, da er sich im Laufe der Saison als ungeeignet erwiesen hatte. Bei dieser Gelegenheit wurde auch der Verkauf des dort liegenden Heues besprochen. Im Mai 1914 verfügte der Sport-Verein endlich über einen eigenen Platz: Man hatte im Dezember des Vorjahres erneut einen entsprechenden Antrag an die Gemeinde gerichtet, Jedoch fühlte sich unser Wohllöblicher Gemeinderat erst gegen Ende März veranlaßt, etwaige Schritte zu unternehmen, nachdem auch die Spielriege des hiesigen Turnvereins um einen Spielplatz nachgesucht hatte. Merkwürdigerweise wurde erst dann der Beschluß gefaßt, die Eingabe des Turnvereins, die sage und schreibe ein volles Vierteljahr später als die unsrige erfolgte, mit der unsrigen gleichzustellen, und es wurde einfach eine öffentliche Versteigerung des Platzes anberaumt, bei welcher der sog. „Lange Flecken" auf M 151,- zu stehen kam. Eine kaum glaubliche Summe, wenn man dazu noch bedenkt, daß es sich um die von unserer Regierung so oft geforderte Jugendausbildung handelt. Auf alle Fälle war hier eine Mißgunst unseres Herrn Bürgermeisters im Spiele, wie wir ihm durch unsere s. z. Schreiben auch klar zu erkennen gaben. Auf alle Fälle haben wir aber der Spielriege des Turnvereins gezeigt, daß wir schon über die Mittel verfügen, einen derartigen teuren Platz zu pachten."

Zwei Sportvereine am Ort

Der Turnverein bestand bereits 18 Jahre, als der Sport-Verein gegründet wurde. Was war der Grund? Genügte denn nicht ein Verein für einen Ort von etwa 900 Einwohnern? Offensichtlich gab es Nieder-Erlenbacher, die mit dem traditionellen Programm des Turnvereins nicht mehr zufrieden waren, weil sie Ballspiele und Leichtathletik betreiben wollten. Dies entsprach einer allgemeinen Tendenz in Deutschland, die sich in der Gründung entsprechender Sportorganisationen niederschlug: für Leichtathletik 1898 und für Fußball 1900. Da sich diese Sportarten aber zum damaligen Zeitpunkt in ganz Deutschland noch nicht in Turnvereinen betreiben ließen, und das galt auch für unseren Ort, ergab sich die Gründung von Sportvereinen beinah zwangsläufig. Natürlich sahen die Turnvereine in den Sportvereinen eine Konkurrenz, und besonders in einem kleinen Ort ergaben sich zahlreiche Animositäten, zumal dann, wenn einige Gründer des Sport-Vereins vorher Mitglied des Turnvereins waren. Dennoch schien sich der neu gegründete Sport-Verein zunächst nicht in den traditionellen Gegensatz zwischen Turnvereinen und Sportvereinen hineinziehen zu lassen und lud zu seinem Stiftungsfest im Jahr 1907 ganz selbstverständlich auch die Turnvereine von Nieder-Erlenbach, Nieder Eschbach, Massenheim, Harheim, Petterweil und Ober-Erlenbach ein. Zu seiner großen Enttäuschung beteiligte sich keiner der geladenen Vereine. Im Lauf der Jahre und sicher auf Grund solcher Erfahrungen geriet dann der Sport-Verein doch in den bestehenden Gegensatz zwischen Turnern und Sportlern. Als 1910 zwei Mitglieder des Sport-Vereins auch dem örtlichen Turnverein beigetreten waren, war der Sport-Verein nicht bereit, diese Doppelmitgliedschaft zu akzeptieren, und schloß seine beiden Mitglieder aus, denn „im übrigen sind die Turnvereine immer gegen die Sportvereine." Im gleichen Jahr wurde eine Einladung des Turnvereins Petterweil abgelehnt, „da wir uns an Festen von Turnvereinen prinzipiell nicht beteiligen."

 

Aber bei der Gründung des Sport-Vereins scheint noch etwas anderes mitgespielt zu haben. Wie schon erwähnt, hielt anläßlich des Maskenballs im Jahr 1907 der 1. Sportwart Karl Kreutz eine Rede, die von einigen Personen „als politisch hingestellt wurde." Und nach dem gelungenen Stiftungsfest im selben Jahr stellt der Protokollant fest, man habe der Einwohnerschaft bewiesen, „daß wir unsere Turnstunden nicht zur Politik verwenden." Wenn im Kaiserreich der Vorwurf erhoben wurde, „politisch" zu sein, so war das mit „sozialdemokratisch" gleichzusetzen. Ein Teil der Einwohnerschaft ordnete also die Mitglieder des Sport-Vereins der Sozialdemokratie zu. So läßt sich also mit ziemlicher Sicherheit feststellen, daß es deshalb zwei Vereine am Ort gab, weil es einmal unterschiedliche Vorstellungen über die Art der sportlichen Betätigung gab und weil es zum anderen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen gab, die deshalb auch politisch unterschiedlich orientiert waren.

Das dörfliche Zusammenleben war also keineswegs nur durch Harmonie gekennzeichnet. Das beweist auch die folgende Eintragung im Protokoll: Nach einer sehr schlecht besuchten Mitgliederversammlung im Jahre 1910 im Lokal Zur Reichskrone, also für jedermann sichtbar, fürchtete man um den guten Ruf des Sport-Vereins, „umsomehr da wir keineswegs der Verein sind, welcher am hiesigen Platze besondere Sympathie genießt." Der Sport-Verein reagierte hierauf, indem er von Anfang an versuchte, sich in der Öffentlichkeit durch Leistung zu beweisen, besser zu sein als die Konkurrenz. Sicher sind so, wenigstens zum Teil, die sportlichen Erfolge, die gelungenen Feste, ja sogar noch die vorzüglichen Protokolle zu erklären.

Vereinigung der beiden Vereine

Schon 1908, also zwei Jahre nach der Gründung des Sport-Vereins, hatte der Turnverein eine Verschmelzung angeregt. Dies wurde jedoch vom Sport-Verein „mit lächerlicher Miene abgelehnt," wie der Protokollant schreibt. Noch im gleicher Jahr lud der Turnverein den Sport-Verein zu seinem 20jährigen Stiftungsfest und zur Turnhalleneinweihung ein. Auch diese Einladung wurde vom Sport-Verein vermutlich nach den Erfahrungen anläßlich des eigenen Stiftungsfestes ein Jahr zuvor „rundweg verworfen."

Bis zum Jahr 1912 schienen sich aber doch die starren Fronten etwas gelockert zu haben, denn der Turnverein nahm erstmals an einer Veranstaltung des Sport-Vereins teil, und zwar am Schlußmeeting. Da die Wettkämpfer des Turnvereins aber am ersten Tag schlecht abschnitten und am zweiten Tag nicht mehr an­traten, stellt der Protokollant nicht ohne Triumph fest, daß der Turnverein „die Hörner einzog, da ihm anscheinend die Abfuhr am 1. Tage vollauf genügte.“

Anders als beim 20jährigen Jubiläum des Turnvereins beteiligte sich der Sport-Verein beim 25jährigen im Jahre 1913 an den Samstagsveranstaltungen, nicht jedoch am Sonntag. Am Montag kam es zu einem sportlichen Kräftemessen: „Insbesondere war für uns der Montag ein Glanztag erster Ordnung, da uns hier zum ersten Mal Gelegenheit geboten war, vor der Öffentlichkeit zu beweisen, daß wir auch im Turnen bzw. in der Leichtathletik ein gut Teil besser sind als unsere Conkurrenten. Die Mitglieder des Turnvereins gaben sich zwar die erdenklichste Mühe, uns in irgendeiner Weise zu schlagen, allein es war vergeblich.“

Vermutlich aus diesem Überlegenheitsgefühl nahm der Sport-Verein 1914 an den Wettkämpfen der Spielriege des Turnvereins teil, „natürlich außer Conkurrenz. Hier zeigten wir in allen Conkurrenzen unsere Überlegenheit.“

Nach dem Krieg wurde auf der Generalversammlung im Januar 1919 die Frage einer Vereinigung mit dem Turnverein nur gestreift, da eine Verschmelzung nur auf Anregung des Turnvereins erfolgen könne. Der Sport-Verein zierte sich also noch etwas, aber wahrscheinlich waren es die Kriegsjahre, die die Einstellung der Mitglie­der gewandelt hatten, denn im Herbst des Jahres kam es zur Fusion der beiden Vereine. Da das Protokoll des Sporl-Vereins hierüber keine Auskunft mehr gibt, wird das des Turnvereins von der Generalversammlung am  20. Juli 1919 zitiert: „Die Vereinigung des Turnvereins und des Sport-Vereins wurde einstimmig angenommen und soll der Verein vom 1. August den Namen „Turn- und Sportverein" führen." Dieser Satz ist als Absichtser­klärung zu verstehen, denn die Fusionsverhandlungen wurden nicht vor dem September erfolgreich beendet.